Dorles Rede zum 95. Geburtstag
von
Katharina Seydel
Dieses und die nächsten Jahre
werden Jahre vieler Jubiläen sein. Das erste und wichtigste ist das Jubiläum
unserer Mutter, 95 Jahre alt wird sie heute am
12. März 2006.
Katharina im Juli 2005 in Lienz (Osttirol)
Die übrigen Jubiläen betreffen Häuser; Häuser, die im langen Leben unserer
Mutter von großer Wichtigkeit waren und sind.
Mit 19 Jahren lebte und arbeitete Katharina in Wien. Dort schrieb sie 1930
als ersten Satz in ihr Tagebuch, in das sie „schöne Erinnerungen aus ihre
Jugendzeit“ niederschreiben wollte: „Früh habe ich schon mein Elternhaus
verloren. Wie schön war es dort, Oberhanser und Forstheim...“.
Das Oberhanser-Gut hatte ihr Vater im Jahre 1901 erworben, also vor 105 Jahren.
Es war damals schon ein schönes altes Haus, wahrscheinlich um 1700 erbaut und
später mit einer Naturstein‑Blendmauer versehen worden.
Oberhanser Haus 1997
Katharina wurde 1911 in diesem Haus als 4. Tochter des Josef Grimm und
seiner Ehefrau Josefa Unterlercher geboren.
Dort um’s Haus herum hat Katel gespielt, die großen Steine beim „Stöckl“ hatten
alle eine Bedeutung, „der eine war die Alm, der andere ein Bett oder der
nächste ein Zimmer“.
Als Katel 14 Jahre alt war, gehörte das Oberhanser‑Gut plötzlich
nicht mehr ihrer Familie. Der Betrieb der Brüder Grimm mit den Mühlen, dem
Sägewerk, den Wirtschaftsgebäuden und dem Wohn- und Gasthaus Waldhof ging in
Konkurs. Großvater Josef Grimm musste mit seinem gesamten Besitz, zu dem auch
das Oberhanser Haus gehörte, haften.
Katel erfuhr von diesem Unglück, als sie von einem langen Aufenthalt in
Deutschland im Forsthaus Loë, zurück nach Hopfgarten kam.
Noch 5 Jahre später als Neunzehnjährige beim Schreiben ihres Tagebuches
steckt die Trauer in dem angeführten ersten Satz.
Das zweite Haus, von dem heute ‑im Zusammenhang mit Mutters Erinnerungen‑
die Rede sein soll, ist die Ignatiushütte.
Die Ignatiushütte wird im Jahr 2006 100 Jahre alt. Die Zahl
1906 ist über der Eingangstüre eingeritzt.
Gebaut haben die Hütte die Brüder Grimm oben auf der Eggalm in 2000 Meter
Höhe als Jagd- und Schutzhaus und natürlich auch für den Sennereibetrieb.
Ignatiushütte wurde sie genannt nach dem Namen unseres Großvaters „Natz“
(Ignatius).
Vor der Ignatiushütte ca. 1913
Großvater Josef links und sein Vater Ignatius rechts am Tisch
Im neuen Buch von Heinz Kröll: „Einkehren in Defereggen“, sind die Hütte als
Teil der Gutswirtschaft Waldhof ebenso wie das Oberhanser Haus abgebildet.
Eines Tages als Kind, so schreibt Katharina in ihrem Tagebuch, sind wir im
Frühjahr auf die Ignatiushütte gegangen. Die Mama haben wir gebeten, uns gehen
zu lassen und in der Schule haben wir uns frei genommen. „Das ging ja damals
nicht schwer“, schreibt Katharina. Lange hätten sie gebraucht, bis sie an der
Hütte oben angekommen seien. Dort haben sie „angepocht“ und gerufen, aber
niemand hat ihnen aufgemacht. So schlugen sie ein Fenster ein und gingen in den
Stall, denn es kündigte sich ein großes Gewitter an. „Dieses Angstgefühl“,
schreibt Katharina, „ich spüre es noch beim Schreiben“.
Beim Heruntergehen später, barfuß, hat Katel den ganzen Weg geweint. Es war
schon finster geworden als sie wieder in Hopfgarten ankamen. Die Schmalznudeln,
hätte der Großvater gesagt, sollten sie selber behalten, informierten sie ihre
Mutter, die natürlich gekränkt war, bis sie erfuhr, dass der Großvater, wegen
Krankheit, gar nicht auf der Alm gewesen war. Da hat’s natürlich Hiebe gegeben.
Katharina und Robert Seydel vor der Ignatiushütte ca. 1980
In den Jahren nach Katels Kindheit, in ihrer Jugendzeit und ihrem frühen
Erwachsenenalter gab es kein eigenes „Zuhause“ für die junge Frau. In Wien
arbeitete sie bei der Familie „Hofrat Schmitz“, die eine Stadtwohnung in
Wien und ein Sommerhaus in Kalksburg hatte. In den Sommerferien in Hopfgarten
wohnte sie bei ihrer Schwester Sefile im Dorfwirtshaus.
Nach ihrer Hochzeit mit unserem Vater am 8. Mai 1937 zog sie in das
Kölner Haus „Im Eichenforst“, das Vaters Vater gebaut und damit für sich,
seine Frau und das junge Paar Platz geschaffen hatte.
Das Kölner Haus im Eichenforst 22, 1937 gebaut
Im nächsten Jahr wird das Kölner Haus 70 Jahre alt.
70 Jahre lang wird Katharina dieses Haus dann bewohnt und gestaltet haben,
von der Mansarde bis zum Parterre und wieder hoch in den 1. Stock. Sie hat
den Garten bearbeitet, den Haushalt geführt, Freunde gefunden und mit ihrer
Vitalität für uns vier Kinder eine Heimat geschaffen, von der aus wir in die Welt ziehen konnten.
Und jetzt rundet sich das Bild:
Für sich und alle vier Kinder, die ihr eigenes Zuhause bereits geschaffen und
vorbereitet hatten, bauten die Eltern von 1965 bis 1967 ein Haus in
Hopfgarten, ein Ferienhaus, in dem sich alle treffen konnten, in dem alle ihre
Sehnsucht nach dem Defereggental und damit zurück zu den Wurzeln befriedigen konnten, sommers wie winters.
Das Hopfgartener Haus „Kälbergarten“ erbaut 1965-1967
Dorf Nr. 63 „der Kälbergarten“ wird nächstes Jahr 40 Jahre
alt. Wir haben allen Grund uns heute zu freuen, dass unsere Eltern dieses
Zentrum im Defereggental geschaffen haben und dass für Katharina sich mit
diesem Haus die Lücke geschlossen hat, die sie als junges Mädchen in Hopfgarten erfahren
hat, kein Elternhaus mehr zu haben.
95 Jahre, ein Jubiläum, das nur wenigen vergönnt ist, wir trinken
auf dich, liebe Mutter, Großmutter, Urgroßmutter und Tante und auf alle Häuser, die
für dich und für uns von Bedeutung geworden sind.
Oberhanser Haus ca. 1930
Katharina Grimm vor dem Forstheim ca. 1930
Katharina am 16. Juli 2005 in Hopfgarten
91593 Burgbernheim, den 12. März 2006